A I R B A G   Magazine

Seite 14

N° 04/2003

 

Geschichte

 
 
DIE UNBEKANNTE GESCHICHTE: DIE MUTIGEN TATEN DER SCHWEIZER

Dies ist die unbekannte Geschichte eines der aussergewöhnlichsten Rettungsversuche, der während des Holocaust unternommen wurde: Die Rettung von 140.000 Budapester Juden. Sogar unter Historikern, die sich mit dieser Zeit befassen, gibt es wenige, die von George Mantello gehört haben, einem jüdischen Diplomaten, der Rettungsaktionen vom Konsulat des Staates El Salvador in Genf aus in die Wege leitete.

Auch wird es viele überraschen, daß gerade die Schweiz an diesen Aktionen wesentlich beteiligt war. Hatte die Schweizer Regierung nicht Tausende jüdischer Flüchtlinge von ihren Grenzen abgewiesen und an die Deutschen ausgeliefert? Auch das Internationale Rote Kreuz, eine Organisation der Schweizer Regierung, zeigte sich den Verfolgten des Naziregimes gegenüber keineswegs hilfsbereit und entschuldigte dies sogar noch mit einer Reihe von Richtlinien. Dennoch hat David Kranzler, der bekannte Holocaustforscher und Autor mehrerer Bücher über Rettungsversuche und Rettungsaktionen während des Holocaust, nachgewiesen, welche Rolle die Schweiz bei der Errettung von Juden tatsächlich gespielt hat. ('The Man who Stopped the Trains to Auschwitz', Syracuse University Press, 2000).

Vor dem Zweiten Weltkrieg war George Mantello ein erfolgreicher Geschäftsmann und ehrenamtlicher Konsul des Staates El Salvador in Ungarn, Rumänien und der Tschechoslowakei. 1942 wurde er zum Ersten Sekretär des Konsulates von El Salvador in Genf ernannt, und in dieser Funktion initiierte er zwei große Rettungsaktionen, von denen auch der Generalkonsul unterrichtet war.

Die erste Aktion war das Austeilen von Staatsbürgerschaftsurkunden aus El Salvador, sowie von Schutzpapieren an Juden in den besetzten Staaten Europas. Die zweite und wichtigere Aktion machte das Unmögliche wahr: Das Anhalten der Deportationszüge aus Ungarn nach Auschwitz, die täglich 12.000 Juden in die Vernichtung schickten.

All dies erreichte er mit Hilfe eines rumänischen Diplomaten, der sein Leben riskierte, um Augenzeugenberichte über die Konzentrationslager und die Geschehnisse in Ungarn an die Öffentlichkeit zu bringen. Diese waren von einem Juden verfasst, der sich im Schweizer Konsulat versteckt hielt und der darauf hinwies, dass vom 15. Mai bis 15. Juni 1944, 500.000 ungarische Juden in den Tod geschickt worden waren. Mit Bangen erwartete er nun den letzten Deportationszug aus Budapest.

Tragischerweise hatten sechs Wochen zuvor sämtliche jüdischen Organisationen in der Schweiz eine Kopie dieser grausigen Berichte erhalten, die ihnen von Rabbiner Michoel Ber Weissmandl, dem Führer des slowakischen jüdischen Untergrundes, übermittelt worden waren. Dieser flehte unter anderem auch die Alliierten an, die Eisenbahnlinien nach Auschwitz zu bombardieren. Alle diese erhielten Schutzpapiere von Mantello, klärten ihn aber nie über die Augenzeugenberichte auf.

Unter Mithilfe des britischen und des amerikanischen Geheimdienstes, denen Mantello schon mehrmals behilflich gewesen war, sowie der moralischen Unterstützung namenhafter Theologen-unter anderem Karl Barth, Emil Brunner und Paul Vogt- initiierte und beaufsichtigte Mantello eine Schweizer Presse- und Kirchenkampagne, die einmalig war. 120 Schweizer Zeitungen veröffentlichten 400 kritische Artikel, einige davon auf den Titelseiten, die die Nazis verurteilten und auf Auschwitz und die Beihilfe der Ungarn hinwiesen. Darüber hinaus wurden in jeder Kirche, von den kleinsten bis zu den grössten Gemeinden, engagierte Predigten über die Greueltaten gehalten.
Währenddessen verteilte Mantello Kopien einer Zusammenfassung der tragischen Augenzeugenberichte an sämtliche Konsulate und ausländische Zeitungen in der Schweiz.

 

Raoul Wallenberg

 

Innerhalb von zehn Tagen erhob sich eine erste Woge der Entrüstung: von Seiten Roosevelts, des Papstes und des schwedischen Königs, der Raoul Wallenberg nach Budapest sandte. Am erstaunlichsten aber war, dass unter der moralischen Führung der Kirchen, Tausende Schweizer Frauen, Arbeiterinnen und Studentinnen, Demonstrationszüge in Schweizer Städten organisierten, um die Gleichgültigkeit ihrer eigenen Regierung und des Roten Kreuzes gegenüber dem Schicksal der ungarischen Juden anzuprangern. Mit Zeitungsüberschriften wie "Es gibt keine Neutralität angesichts derartiger Verbrechen." wurde sogar die schweizer Neutralität in Frage gestellt.
Eine Woche später gaben die Schweizer Regierung und das Rote Kreuz dem Willen der Schweizer Bürger nach; sie begannen, Schutzmaßnahmen für die Juden in Budapest zu organisieren, Seite an Seite mit den schwedischen, spanischen und portugiesischen Botschaften sowie Vertretern des Vatikans. Trotz Eichmanns Versuchen, die "Endlösung" in Ungarn durchzuführen, riskierten Diplomaten neutraler Länder ihr Leben, um die noch verbliebenen ungarischen Juden zu retten.

In seinem preisgekrönten Buch dokumentiert David Kranzler diese faszinierende Geschichte, voller Ironie, Heldentaten, Scharfsinn, aber auch Verrat. Er hat seine Leser darauf hingewiesen, welchen Dank wir dem kleinen Staat El Salvador, den Schweizern und den Diplomaten anderer neutraler Länder schulden, ohne deren Hilfe kein ungarischer Jude in Budapest den Holocaust hätte überleben können.

Baruch Tenembaum, Gründer der Internationalen Raoul-Wallenberg-Stiftung